Ziranmen – Eine innere Kampfkunst

Ziranmen – eine innere Kampfkunst 

Von Naseem Raufi und  Dr. Thomas Diesner

Artikel aus dem Taiji Qigong Journals 2/2021 

Ziranmen ist eine aus Shandong stammende Kampfkunst, die zu den nördlichen Kampfkunststilen Chinas gezählt wird. Es handelt sich um eine sogenannte „innere“ Kampfkunst und gehört damit, wie das Taijiquan, das Xingyiquan und das Baguazhang, zur Familie der inneren Schulen, dem Neijiaquan. Wie der Name bereits impliziert, liegt der Trainingsschwerpunkt auf der Arbeit mit inneren Aspekten des Körpers, wie zum Beispiel der Entwicklung einer natürlichen Körperstruktur, welche dann auch für Kampfhandlungen nutzbar wird.

 

Die chinesischen Kampfkünste sind äußerst vielfältig, so dass – mit allen Substilen und Familienstilen – eine unüberschaubare Anzahl an Stilen zu finden ist. Manche sind weltweit verbreitet, andere führen ein Schattendasein und werden nur von wenigen Menschen praktiziert. Da diese Stile zudem nur an wenige Menschen weitergegeben werden, besteht die Gefahr ihres Verschwindens und damit auch des Verlusts einer Heterogenität, die für eine lebendige und entwicklungsfähige Kampfkunstszene unerlässlich ist. Einer dieser raren Stile ist das Ziranmen.

Wichtig zu erwähnen ist, dass es einen weiteren Stil mit gleichem Namen in Südchina gibt, als dessen bekanntester Vertreter Wan Lai Sheng (1903 – 1992) gilt. Unser nördliches Ziranmen hat weder eine Überschneidung mit dieser Traditionslinie noch ähneln sich Art und Weise des Trainings. Beide Stile des Ziranmen sind voneinander völlig unabhängig entstanden und teilen einzig den gleichen Namen.

Chinesische Kampfkünste werden im Westen oft als sogenannte “Kung Fu” Stile bezeichnet, daher könnte man sagen, dass Ziranmen 自然门 ein Kung Fu Stil ist. Da der Terminus Kung Fu /Gong Fu /功夫 kein Sammelbegriff für Kampfkünste darstellt wäre eine solche Bezeichnung nicht Korrekt . Mehr zu dem Thema was Kung Fu / Gong Fu 功夫 bedeutet finden Sie hier.

Das Ziranmen

Ein paar Worte zur Tradierung: Guo Ju Zhi (郭聚智, dritte Generation) lernte das Ziranmen von seinem Großvater und unterrichtete Yu Guang De (于光德). Dieser brachte es schließlich auch nach Europa. Grundsätzlich muss erwähnt werden, dass Traditionen, die im Nordosten überlebt haben, die Kreise klein und geschlossen halten. Dies hängt mit der modernen Geschichte Chinas, insbesondere im Nordosten, zusammen. 1895 unterlag China Japan im ersten sino-japanischen Krieg, der Aufstand der Boxer gegen die ausländischen Mächte (Deutsches Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Russland und USA) scheiterte im September 1901 und im Jahr 1931 begann Japan erneut mit der Eroberung der Mandschurei, welche sie 1937 mit dem zweiten sino-japanischen Krieg fortführte. Schließlich erfolgte mit der Kulturrevolution eine Zerstörung der traditionellen Kultur und des Wissens Chinas, an der noch andauernde Vereinheitlichungs- und Systematisierungsbemühungen tradierten Wissens teilhaben (am Beispiel des Qigong beispielhaft beschrieben von David Palmer in seinem Buch „Qigong Fever“ (Columbia University Press 2007)).

Die Verschlossenheit gegenüber Fremden ist demnach nicht allein durch einen besonderen Respekt gegenüber der Tradition zu erklären. Yu Guang De wuchs während der Zeit der Kulturrevolution auf, umgeben von Menschen, welche die Gewaltherrschaft der Japaner miterleben mussten. Sein Lehrer hatte beide Elternteile durch die Besatzer verloren, so dass er von seinen Großeltern aufgezogen wurde. Anders als in Beijing oder Shanghai herrschten in Städten wie Shenyang zu dieser Zeit unvorstellbare Lebensumstände. So erzählte Yu Guang De, dass sich die Familie im Winter die Kleidung aufteilen musste, damit überhaupt eine Person das Haus verlassen konnte, um bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad Nahrung zu beschaffen. All diese Faktoren spielten natürlich eine Rolle bei der Entscheidung über die Weitergabe einer Kampfkunst.

Der Natur folgen

Der Name Ziranmen verweist auf einen daoistischen Terminus, zìrán, der bereits in klassischen Schriften wie dem Daodejing und der nach Zhuangzi benannten Schrift an mehreren Stellen gefunden werden kann. Ziran wird in der westlichen Literatur oft mit Natur, besser jedoch mit Natürlichkeit, natürlicher Spontaneität oder mit „selbst-so“, „von selbst“ übersetzt (Günter Wohlfart: Der philosophische Daoismus, edition chōra 2001) und beschreibt einen Prozess oder einen Verlauf, der frei von willkürlichem Eingreifen abläuft. In den Kampfkünsten steht dieser Begriff für eine gewisse Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit im Handeln. Im Zhuangzi wird dies folgendermaßen beschrieben:

„Laß deinen Geist in der Leere wandern […] und deinen Lebensatem eins werden mit der Unendlichkeit. Folge einfach der Natur der Dinge und laß keine persönlichen Vorlieben sich einmischen […]“ (Zhuangzi VII, 3, Übersetzung von Stephan Schuhmacher, Reclam 2003)

Damit sind bereits Anspruch und Ziel im Ziranmen formuliert: die Fähigkeit natürlicher und spontaner Bewegungen, um eine spezifische Wirkung in den Kampfhandlungen zu erzielen. Durch die achtsame Arbeit mit dem eigenen Körper werden morphologisch günstige Struktur- und Bewegungsbilder auf natürliche Art erlernt und „pathologische“ Körperbilder nachhaltig transformiert.

Anders als in vielen Kampfkünsten wird dabei nicht mit vordefinierten aneinandergereihten Schlag- und Trittbildern, den sogenannten Formen (Taolu) gearbeitet. Vielmehr werden die Bilder alleine für sich geübt. Diese Trainingspraxis nennt sich dan cao lian fa (Training simpler Mechaniken) und es ist nicht unwahrscheinlich, dass genau diese Art des Trainings noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in anderen Stilen praktiziert wurde. Yang Luchan war beispielsweise dafür bekannt, dass er seine Gegner mit dem ersten Treffer immens verletzen konnte, nicht für seine Formen und auch nicht dafür, dass er seine Gegner 20 Meter weit schleudern konnte. Man sagte ihm nach, dass in dem Moment, in dem sich seine Hand zum Gegner streckte, diese sich rot vom Blut des Gegners färbte. (aus dem Reich der Mythen)

Warum hier der Vergleich zum Yang Taijiquan? Beschäftigt man sich intensiv mit verschiedenen Kampfkünsten, dann stellt man fest, dass die Trainingsmethoden einige essentielle Gemeinsamkeiten aufweisen. So kommt man, ohne es tatsächlich zu wollen, zur Wurzel der Kampfkunst selbst. Einem solch essentiellen Verständnis fühlt sich das Ziranmen auch in der Trainingsmethodik verpflichtet. Die Frage, was Ziranmen für eine Kampfkunst ist, soll daher in einem ersten Schritt anhand der Frage, was eine innere Kampfkunst ist, beantwortet werden.

Eine innere Kampfkunst hat nichts mit der Unterscheidung von Shaolin und Wudang zu tun, auch nichts mit „weich“ und „hart“ oder „mit Qi“ und „ohne Qi“. Die drei großen inneren Kampfkünste, das Taijiquan, das Xingyiquan und das Baguazhang, sind alle zu Zeiten der Qing-Dynastie (1616 – 1911) entstanden, das heißt, sie sind noch nicht sehr alt. Wichtig zu erwähnen ist zudem, dass die drei Stile von einer Person, von Sun Lutang (孙禄堂, 1861 – 1933), einem der einflussreichsten Kampfkünstler, der vor allem im republikanischen China wirkte, zusammengeführt wurden. Er war es, der Xingyiquan, Taijiquan und Baguazhang als „innere Stile“ klassifizierte. Sun Lutang hatte festgestellt, dass diese bemerkenswert viele Ähnlichkeiten aufwiesen und auf den gleichen Effekt abzielten, den Gegner durch physische, kaum erkennbare Manipulation zu dominieren. In diesem Sinne ließen sich die Begriffe nei und wai nicht nur als innen/innerlich und außen/äußerlich, sondern auch als korrekt und inkorrekt interpretieren.

Da Stile wie das Xinyi Liuhequan, Liuhebafa, Yiquan, Wuxing Tongbei und das Ziranmen ähnliche, wenn nicht sogar identische Schwerpunktsetzungen haben wie das Taijiquan, gehören diese ebenfalls zu den inneren Stilen. Auch lassen sich aus heutiger Sicht die sogenannten „externen“ Stile nicht mehr als „nur“ extern beschreiben, da viele Lehrer aus mehreren Quellen schöpfen und so – bewusst oder unbewusst – „innere“ Methoden in das eigene Training integrieren. Auch wenn sich die Stile in der Ausführung und Gliederung stark voneinander unterscheiden, lässt sich dennoch eine methodische Gemeinsamkeit im Training finden. Diese lässt sich als tian di he yi beschreiben, was bedeutet: Himmel und Erde zu einem zusammenbinden.

Die Methode des inneren Trainings im Ziranmen verläuft in diesem Sinne über vier Stufen. Zuerst steht das, was man gemeinhin als Entspannung (sōng松) bezeichnet, im Vordergrund, wobei das Augenmerk auf dem prozessualen Charakter von Song liegt, der nie zu Spannungslosigkeit führt. Die zweite Stufe besteht im Erreichen von Stille (jǐng静), als Grundlage schließlich für die dritte, Leere (kōng空) und vierte Stufe, das Nichts(wú无).

Bereits die erste Stufe ist schwer zu erreichen, da Song oftmals missverstanden wird. Mit „entspannen“ übersetzt, verhindert es oft mehr, als es nützt, denn Song ist immer noch eine Spannung, wie auch umgekehrt Spannung Song sein kann: „sōng zhōng yǒu jǐn, jǐn zhōng yǒu sōng 松中有紧 紧中有松. Auch dessen Charakterisierung als „relaxed“ ist nicht unbedingt sinnvoll, kann dies doch zu einer losen beziehungsweise gebrochenen Haltung führen. Natürlich ist Song auch nicht als eine Anspannung im Sinne eines lokalen Spannens der Muskulatur zu verstehen. Besser lässt es sich dagegen als eine Art gerichteter Spannung beschreiben, die entlang von Muskelketten verläuft beziehungsweise durch Song überhaupt erst verlaufen kann, so dass letztlich Kraftübertragung möglich wird. Song ist damit der praktische Kern der Methoden der Kraftübertragung (jìn fǎ 劲法), der den inneren Stilen gemeinsam ist.

Song und vor allem Stille bedarf es, um die Intention eines Gegenübers zu erkennen, damit der Körper „hören“ (tīng jìn听劲) und damit intuitiv in Entsprechung zu den Aktionen des Gegners/Partners agieren kann. Man will sich unbemerkt, im Schatten der Intention des Gegenübers bewegen. Dabei ist nicht nur das Wie entscheidend, sondern vor allem das Wann.

Yu Guang De sagte während eines Trainings einmal: „Ich habe schon gewonnen. Die Frage ist nur, wie du verlieren wirst.“ Dazu muss gesagt werden, dass Yu Guang De kein Lehrer ist, bei dem man froh sein kann, von ihm mit dem kleinen Finger berührt zu werden. Nein, er ist jemand, der Schläge, Griffe und Würfe buchstäblich einfordert, auch, um einen fühlen zu lassen, woran es noch zu arbeiten gilt. Doch egal, wie schnell man mit einem Angriff war, letztlich war er immer schneller. Sein „Geheimnis“ bestand darin, den Gegner dazu zu bringen, gegen sich selbst zu arbeiten.

Das Dantian ist überall

Kommen wir nun zu dem, was das Zi Ran Men von anderen Stilen unterscheidet. Im Tai Ji Quan, zumindest im Yang-Stil, spricht man überwiegend von den acht Methoden und fünf Schritten (acht Kräften und fünf Richtungen) (ba fa wu bu): peng, lü, ji, an, cai, lie, zhou, kao sowie qian jin, hou tui, zuo gu, you pan und zhong ding. Diese lassen sich als die 13 Bilder des Taijiquan zusammenfassen. Im Ziranmen hingegen kennen wir nur vier basale Kräfte, zuan (Bohren), zhua (Krallen), luo (Fallen) und deng (Pressen), sowie fünf Schritte beziehungsweise Richtungen, zhi bu, tui bu, nian bu, xuan bu und zhong ding.

Wie erwähnt, kennt man im Ziranmen kein Formentraining. Stattdessen werden die „Fäuste der fünf Elemente“ wǔxíng quán (Bild 3)und die „acht Schritte-Hämmer“ bābù chuí geübt, um Kraft, Richtung und timing zu konditionieren sowie diese in einem konkreten Rahmen zu integrieren. Um die sogenannte innere Kraft anwenden zu können, bedarf es der Fähigkeit, Körperregionen gezielt anzusteuern, mit dem Ziel Raum bzw. Weg zu schaffen. Zu diesen grundlegenden Übungen zählen unter anderem „Zwei Tiger bewachen das Tor“ èr hǔ bǎ mén(Bild 1) und „Erlang trägt die Last auf den Berg“ er lang dan shan(Bild 2). Bei diesen Übungen wird durch permanente Gewichtsverlagerung der Körper so trainiert, dass er sein volles Bewegungspotential ausschöpfen kann, ohne dabei seine aufrechte Struktur zu verlieren. Die Übungen bestehen gleichzeitig in rotierenden Gewichtsverlagerungen und linearen Vorwärtsbewegungen des Beckens.

All diese Übungen werden in Zyklen trainiert und wandeln sich in der kämpferischen Auseinandersetzung in die sogenannten 18 Schattenhände und 36 Schattenfüße. Letztere beschreiben weniger einen bestimmten Technikpool als den Anspruch strategischer Umsetzung der Kräfte. Für sich achtsam und damit äußerst langsam trainiert, werden diese in einer kämpferischen Auseinandersetzung blitzschnell und rücksichtslos angewendet.

Im Taijiquan, wie in fast allen anderen chinesischen Kampfkünsten auch, gilt, das Dantian als einen zentralen Schwerpunkt anzusehen, der zu entwickeln ist. In der Traditionellen Chinesischen Medizin wird das Dantian das „Qi-Meer“ (qi hai genannt. Mit dem Begriff qì chén dān tián 气沉丹田n (das Qi ins Dantian sinken lassen) ist dann gemeint, sein Qi in diesem Bereich zu konzentrieren und aus diesem handelnd Strukturen aufzubauen und Kräfte freizusetzen. Man arbeitet also aus dem Dantian heraus und in das Dantian hinein. Daran sind viele, wenn nicht alle Übungen, etwa stehende Übungen (zhàn zhuāng 站桩) und Seidenspinnübungen gekoppelt.

Im Ziranmen hingegen gilt das Dantian nicht als fixer Punkt, den man bewusst anzusteuern hätte. Vielmehr entsteht das Dantian dort, wo es benötigt wird, das heißt wo die Intention des Gegners einwirkt. Man sagt hier: Das Dantian ist überall“ (wu chu bu dan tian). Vor dem Hintergrund dieses Ansatzes gibt es keine Standübung. Die Trainingsinhalte basieren auf sehr simplen Bewegungen, die – vermittelt durch die polaren Körperspannungen von Öffnen und Schließen (kai he) – das Ziel verfolgen, „Weg“ entlang der Muskelketten im Körper zu generieren.

Hinzu kommt, dass bei allen Übungen keine Intention, kein yi projiziert werden soll. Angestrebt wird der Zustand eines leeren Yi (kong yi). Damit ist die dritte Stufe des Trainings auf dem Weg zur Natürlichkeit angesprochen. Die vierte Stufe des wu, die man in den klassischen Schriften beispielsweise im wu wei wiederfindet, steht in engster Verbindung mit dem Ziran. Das Wuwei beschreibt dann ein Handeln, das sich spontan den Gegebenheiten anpasst, eine „rezeptive Spontaneität“ oder „passive Aktivität“ (wei wu wei) (Günter Wohlfart: Der philosophische Daoismus, edition chōra 2001, S. 106) frei willkürlichen Eingreifens in die natürlichen Gesetze und Abläufe. Auf diesem Weg schließlich können im Menschen Himmel und Erde gebunden werden – wie es bereits im Daodejing (Vers 25) steht: „Der Mensch folgt (den Gesetzen) der Erde, die Erde (den Gesetzen) des Himmels, der Himmel folgt dem Dao und das Dao dem, was natürlich ist.“ (Übersetzung aus dem Chinesischen von Gia-Fu Feng und Jane English ) 

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